Agatha Christie - Hercule Poirot: The First Cases im Test: Verstrickungen um die Familie Van den Bosch
Erneut erhält der aus der Feder von Agatha Christie stammende Meisterdetektiv Hercule Poirot Einzug in die Gaming-Welt. Das Entwicklerstudio Blazing Griffin wendet sich hierbei allerdings, anders als bei den 2016 erschienen ABC-Morden, erstmals den kriminalistischen Anfängen des belgischen Schnüfflers zu. Ob der junge Poirot seine Fälle aber auch schon genauso souverän lösen kann wie sein berühmtes Alter Ego, ermitteln wir mit euch in unserem Test.
Früh übt sich, wer ein weltbekannter Meisterdetektiv werden will
In den Romanen von Agatha Christie und anderen Adaptionen kennen wir Hercule Poirot als einen Herrn mittleren Alters, der über eine gewisse Lebenserfahrung verfügt und sich auch bereits einen weitreichenden Ruf als Detektiv erarbeitet hat. Über seine Vergangenheit bei der belgischen Kriminalpolizei vor seinem Debüt-Auftritt, in dem er als Flüchtling im Zuge des Ersten Weltkriegs nach Großbritannien gekommen ist, erfahren wir hier aber nur wenig. Diese Chance erhalten wir nun in Agatha Christie – Hercule Poirot: The First Cases, wo wir in eine komplett neue, nicht auf einer Romanvorlage basierenden Geschichte eintauchen.
Der frisch aufs Land versetzte Officer Hercule Poirot wird zu Beginn des Spiels zu einem Diebstahl bei der wohlhabenden Familie Van den Bosch gerufen. Ein wertvolles Armband der Tochter ist verschwunden und eins der Dienstmädchen wird verdächtigt, dieses entwendet zu haben. Natürlich setzt Poirot alles daran, den Fall aufzuklären, was ihm selbstverständlich auch gelingt – wenn auch sein Ausgang nicht ganz so die Wendung nimmt, die er erwartet hat.
Diese Erfahrung prägt ihn, doch der Fall ist abgeschlossen. Poirot setzt seine Arbeit im Dienste der belgischen Polizei fort und bekommt dort schließlich für seine Bemühungen auch den Grad „Detective“ verliehen.
Einige Jahre nach dem Vorfall um das verschollene Armband erhält er überraschend eine Einladung zu der Verlobungsfeier von Angeline Van den Bosch, eben jener Tochter, deren Schmuck abhanden gekommen war. Auch sie wurde von den damaligen Geschehnissen geprägt und erinnert sich noch genauestens an die gute Ermittlungsarbeit von Poirot. Da sie mit der Offenlegung von Familiengeheimnissen erpresst wird, obwohl ihr überhaupt keine prekären bekannt sind, bittet sie verzweifelt den Polizisten um Hilfe. Natürlich fackelt Poirot nicht lange und nimmt die Einladung zu der Verlobungsfeier an, da hier Freunde und Geschäftspartner der Familie teilnehmen werden, welche ja vielleicht zum Kreis der Verdächtigen gehören könnten.
Kurz nachdem Poirot schließlich bei den Van den Boschs eingetroffen ist, werden sie durch einen Schneesturm von der Außenwelt abgeschnitten. Zudem sind Spannungen unter den Gästen zu spüren – und natürlich bleibt es auch nicht bei einer Erpressung…
Sein Name ist Poirot, Hercule Poirot
Wer die Figur Hercule Poirot kennt, weiß, dass er Methode und Ordnung liebt, ja schon regelrecht versessen darauf ist. Dies spiegelt sich auch in seiner gesamten, würdevollen Erscheinung wider, die von „geradezu unglaublicher Korrektheit [ist], wahrscheinlich hätte ihm ein Staubkorn mehr Unbehagen verursacht als eine Schusswunde.“[1] Dennoch wird er oft aufgrund seines Äußeren unterschätzt, da er nicht so groß ist und einen Eierkopf hat, wobei diese Verkennung ihm manchmal aber auch Vorteile bei seinen Ermittlungen einbringen kann. Auf seinen prächtigen, akkurat gepflegten Schnurrbart ist er stolz und er ist vollkommen von sich und seinen Fähigkeiten überzeugt.
Auch der junge Poirot besitzt schon all diese Eigenschaften, wenn auch noch nicht ganz so ausgeprägt wie bei seinem zukünftigen Ich. Da er noch nicht mit dem späteren, fabelhaften Ruf aufwarten kann, sieht er sich in Agatha Christie – Hercule Poirot: The First Cases verstärkt Konfrontation mit Unterschätzungen gegenüber. Insbesondere der charakteristische Ordnungssinn zeigt sich aber bereits deutlich bei seiner Ermittlungsarbeit.
Die kleinen, grauen Zellen
Die Geschehnisse im Hause Van den Bosch werden in mehrere Teil-Fälle untergliedert. Jeder dieser Fälle wird über eine eigene Gedankenkarte abgebildet, die als Mindmap dargestellt ist. Innerhalb derer hält Poirot alle Erkenntnisse per Stichpunkte fest. Diese werden wiederum mit dem Ursprung, zum Beispiel einer Person, verbunden.
Neue Punkte werden nach Poirots Eintrag stets solange mit einem Ausrufzeichen versehen, bis wir uns die Gedankenkarte einmal angesehen haben. Die gesammelten, voneinander losgelösten Tatsachen müssen in einem nächsten Schritt dann natürlich noch in einen sinnhaften Zusammenhang gestellt werden, um so die vergangenen Geschehnisse rekonstruieren zu können. Sobald eine Verbindung zwischen Hinweisen möglich ist, wird uns das angezeigt. Dann gilt es aus dem Sammelsurium im wahrsten Sinne des Wortes die richtige Schlussfolgerung zu ziehen, denn wir verknüpfen die entsprechenden Indizien mithilfe einer direkten Linie.
Beim Kombinieren müssen wir schon ein wenig nachdenken. Manches ist eindeutig, manches allerdings auch wieder nicht. Hierbei liegt das Problem aber weniger darin, dass die Rätsel so extrem schwer sind als eher, dass wir herausfinden müssen, worauf das Spiel eigentlich hinaus will. Die Schlussfolgerung wird nämlich Schritt für Schritt aufgebaut – und manchmal sind wir schlicht gedanklich schon viel zu weit, haben wir doch die entsprechenden Erkenntnisse zuvor ja noch gar schriftlich verknüpft. Oder wir sind zwar zu demselben Ergebnis gelangt, hätten aber von der Formulierung her andere Notizen zum Verbinden verwendet oder auf Zwischenschritte verzichtet.
Hängen wir mal, sind wir aber nicht vollkommen allein gelassen, denn das Spiel nimmt uns gut an die Hand. Wenn wir nämlich einen von Poirots Gedankenpunkten auswählen, werden die Beweise, die wir bei einer fehlerhaften Kombination schon einmal verwendet hatten, rot unterlegt, sodass wir leicht die Übersicht behalten und wir diese getrost vernachlässigen können. Hat man außerdem erst mal das Muster erkannt, wo die Verknüpfungen in der Darstellung der Gedankenkarte vorgesehen sind, nimmt die Fehlerquote ebenfalls noch mal etwas ab.
Methodisches Verhör
Bei manchen der Gespräche müssen wir ebenfalls unsere Gehirnwindungen etwas anstrengen, wenn es gilt, bei den sogenannten Dialogherausforderungen geschickt die Verteidigung des Gegenübers zu durchbrechen, um dessen Geheimnis endgültig auf die Spur zu kommen. Zu Beginn des Gesprächs erhalten wir einen Hinweis in Form von Poirots Gedanken zu der am besten passenden, taktischen Vorgehensweise. Im Gesprächsverlauf müssen wir daraus resultierend an verschiedenen Stellen zwischen mehreren Antwortmöglichkeiten die richtige Variante auswählen. Verwenden wir eine falsche Version, macht unser Gesprächspartner zu und wir erfahren nichts mehr Relevantes. Das ist wirklich ein schönes Feature, das wunderbar zu einem Detektivspiel passt.
Leider ist es aber nicht komplett konsequent umgesetzt worden, denn liegen wir einmal falsch, hat dies keine besondere Auswirkung. Wir starten das Gespräch dann lediglich wieder von vorne und versuchen es gemäß Trial-and-Error erneut. Konsequenzen aus einer getroffenen Entscheidung für den weiteren Spielverlauf, wie beispielsweise in Detroit: Become Human, gibt es also nicht. Die einzige, wiederum wirklich gut gelungene Ausnahme hierzu lässt sich im letzten Kapitel finden, in welchem Poirot die Auflösung des Falles vor versammelter Mannschaft genüsslich zelebriert und der Ausgang des Spiels vom Erfolg solcher Gespräche abhängt.
In der Ruhe liegt die Kraft
Das Erzähltempo von Agatha Christie – Hercule Poirot: The First Cases ist eher gemächlich. Auch die Steuerung ist sehr simpel gehalten, weil es sich hier, passend zu den zugrundeliegenden Romanen, um eine Visual Novel handelt. Ergänzende Minispiele bei den Ermittlungen wie bei Danganronpa, die das Gameplay noch etwas auflockern, finden wir allerdings nicht.
Auch unsere Spielfigur hat es unterwegs nicht sonderlich eilig. Die gechillte Art von Poirot findet sich zudem in seinen Ermittlungen wieder und ist manchmal auch unfreiwillig komisch. So kann die düstere Kälte, die er angesichts einer Entdeckung empfindet, ja wirklich durchaus dem Entsetzen geschuldet sein – genauso gut kann es aber auch von dem sperrangelweit offen stehenden Fenster hinter ihm herrühren, durch welches der tobende Schneesturm nur so ins Innere wütet. Oder der irreversible Fleck, der den Teppich völlig ruiniert, scheint ihn weitaus mehr zu beschäftigen, als die extrem schockierende Tatsache davor, um die es ja eigentlich geht.
Unser Weg ist uns im Spiel stets fix vorgegeben. Wir laufen also immer wieder gemäß Vorgabe von A nach B und führen dort ein Gespräch mit einem der anderen Personen oder wir überprüfen eine Räumlichkeit nach einer Vermutung. Anschließend überdenken wir das Ganze in den Gedankenkarten. Durch erfolgreiche Schlussfolgerungen ergeben sich schließlich wieder neue Möglichkeiten, denen wir nun nachgehen sollen. Entweder schalten wir weiterführende Gespräche frei oder wir können die Untersuchung an anderer Stelle fortsetzen, um dort nach weiteren Hinweisen zu forschen.
Grundsätzlich ist dieses Spielkonzept für ein Detektivspiel, das den Fokus auf die Enthüllung der Geschichte legt, ja nicht störend. Es ist auch trotz des geringen spielerischen Anspruchs keinesfalls langweilig oder öde, weil die Story spannend gestaltet ist und es wirklich gut schafft, lange offen zu halten, wer denn nun hinter allem steckt.
Allerdings wäre es schön gewesen, wenn die Levelbegrenzungen nicht gar so starr gezogen worden wären. Hin und wieder wollten wir uns eigentlich noch ein wenig umsehen, doch wir hatten bereits eine Stelle ausgewählt, bei der die Erzählung unverhofft schon weiter ging. Zurück konnten wir danach dann allerdings nicht mehr. Außerdem ist es etwas schade, dass bei der Erkundung der Räumlichkeiten teilweise Recycling betrieben wurde. Obwohl wir in Summe nicht so extrem viele verschiedene Gegenstände näher in Augenschein nehmen können, wiederholen sich dennoch teilweise die Beschreibungstexte. So ist Poirot offenbar so fasziniert vom Kaminfeuer, dass er uns an wirklich jedem Kamin haargenau dasselbe erzählt.
Es fügt sich zum Gesamtbild zusammen
Das Geschehen beobachten wir vollständig aus einer isometrischen Perspektive, bei der die zu uns zeigenden Wände, ähnlich wie in Cluedo oder Die Sims, ausgeblendet sind, um das Innenleben des Raumes nicht zu verdecken.
Wie die Ausgangsbasis der Geschichte schon vermuten lässt, ist der Schauplatz des Spiels vollständig im Zuhause der Familie Van den Bosch angesiedelt. Ein klassischer Fall des Whodunit also, bei dem die Grenzen des Kreises der Verdächtigen ganz deutlich abgesteckt sind, da sich ja durch den Schneesturm von außerhalb niemand Weiteres dazu mischen kann.
Ein großes Herrenhaus hat ja aber auch ohne Wechsel an andere Orte durchaus Möglichkeiten, um die einzelnen Räume abwechslungsreich zu gestalten. Die Unterschiede sind trotz der etwas veralteten Grafik grundsätzlich auch gut umgesetzt worden. Allerdings ist es schade, dass hier ebenfalls etwas Recycling betrieben wurde. Dass große Standuhren desselben Stils in mehreren Räumen aufgestellt wurden, mag ja noch irgendwo vertretbar sein, dass aber auch Teleskope schon fast inflationär verwendet wurden, wirkt schon ein bisschen so, als hätte man es sich leicht gemacht. Etwas mehr Abwechslung, um die Räume noch lebendiger zu gestalten, hätte an der Stelle nicht geschadet.
Auch die Charaktermodelle der Personen hätten in Punkto Lebendigkeit noch etwas mehr Feinschliff vertragen können, denn sie besitzen quasi nur einen Gesichtsausdruck und es sind kaum Gesichtsanimationen vorhanden. Ihre Animationen wirken auch etwas altbacken. Gerade Poirot scheint sich beim Verlassen der Levelgrenze zu der anschließenden Umgebung als Pantomime üben zu wollen, so übertrieben wie er auf die Treppe tritt oder nach dem Türgriff greift. Insbesondere an den Stellen, an denen die Wand zwecks Einsicht in den Raum ausgeblendet ist, sieht dies schon etwas komisch aus.
Die gezeichneten Einblendungen der Charaktere bei den Dialogen, sind wiederum gelungen und verdeutlichen gut die Emotionen. Die Stimmung und Spannung werden aber besonders von den vollständig vertonten Dialogen getragen. Sämtliche Sprecher machen hierbei einen richtig guten Job. Beispielsweise spricht Poirot mit einem leichten Akzent und streut auch ganz typisch für ihn hin und wieder französische Wörter ein, n’est ce pas? Hervorzuheben ist auch, dass die Vertonung in den Sprachen Englisch, Deutsch und Französisch vorhanden ist.
Die Musik sorgt ebenfalls für ein klassisches Krimiflair, da sie den Stil des Erzählzeitraums gut trifft. Allerdings handelt es sich dabei quasi immer um dasselbe Stück. Zwar wäre auch hier etwas mehr Abwechslung ja schon schön gewesen, aber da die Musik so dezent im Hintergrund bleibt und die Geschichte gut untermalt, hat uns die mangelnde Variation nicht so sehr gestört wie beispielsweise die Mehrfachverwendung der Teleskope.
Was den Flow aber leider manchmal unterbricht, sind die zu klein geratenen Bildschirmtexte, wenn wir bei den Gesprächen mehrere Antwortoptionen haben. Es kann nämlich durchaus passieren, dass lange Texte darin so zusammengequetscht werden, damit sie in das Auswahlfenster passen, dass wir uns schon stark anstrengen müssen, um sie ohne Lupe zu entziffern.
Fazit:
Zwar können die Grafik und die Animationen von Agatha Christie – Hercule Poirot: The First Cases nicht mit den Next Gen-Titeln mithalten, aber das tut dem Spiel trotzdem keinen Abbruch. Auch das simpel gehaltene Gameplay oder das Fehlen von Minispielen hat mich nicht sonderlich gestört, weil das Erleben einer klassischen Detektivgeschichte ganz klar im Vordergrund steht. Die Story rund um den jungen, gut getroffenen Hercule Poirot ist bis zum Schluss spannend gestaltet. Mir als Krimifan hat das Spiel wirklich gut gefallen.
[1] aus: „Das fehlende Glied in der Kette“ von Agatha Christie (3. Auflage 2003 Scherz Verlag)
- Spannende Kriminalgeschichte in Form einer Visual Novel
- Typisches Krimiflair
- Vollständig vertonte Sprachausgabe
- Figur Hercule Poirot ist gut getroffen
- Konzept der Gedankenkarte
- Der Ausgang des Spiels hängt vom Geschick bei finalen Dialogherausforderungen ab
- Unfreiwillig lustige Szenen
- Veraltete Animationen und Grafik
- Teilweise Recycling
- Teilweise zu kleine Bildschirmtexte
- Starre Levelgrenzen
- Keine Gameplay-Herausforderung und Minispiele
Konsolenzockerin seit der Kindheit, bevorzugt auf der PlayStation. Zu den Lieblingsspielreihen gehören Grandia, Project Zero, Tomb Raider, Uncharted und Tekken, aber es finden auch gerne mal Indie-Titel den Weg auf den Bildschirm.