Atomic Heart im Test: Bioshock auf Russisch
Mundfish versucht, mit seinem fast Erstlingswerk Atomic Heart in die großen Fußstapfen von Bioshock zu treten. Ob die Schuhe auch passen oder ob die ganze Sache doch eine Nummer zu groß ist, klären wir im Test.
An einem lauschigen Frühlingstag beginnt unsere Reise auf einem Fluss irgendwo im riesigen Sowjetreich in einer alternativen Zeitlinie im Jahr 1955. Die UDSSR hat den Zweiten Weltkrieg gewonnen und mithilfe des Polymers gigantische Bauten, fliegende Städte und die Besiedelung des Mars im Rausche des Pioniergeistes in Aussicht. Das Polymer ist ein Werkstoff und eine Erfindung des allseits gegenwärtigen General Setschenows, mit dessen Hilfe die Sowjets solche Wunder vollbringen können. Um diese Unternehmungen umzusetzen, helfen und dienen den Gestaltern der neuen Welt nun Heerscharen an Robotern. An diesem Tag steht auch noch die Veröffentlichung des Kollektiv 2.0 an, die alle Menschen und Androiden an einem riesigen Wissensspeicher teilhaben lässt. Dass das nicht gut ausgeht, versteht sich von selbst und so wird aus einer beschaulichen Bootsfahrt ganz schnell ein rasanter Baller- und Rätselspaß.
Dem Wahnsinn auf der Spur
Die Story von Atomic Heart hinterlässt nicht nur Jubelstürme, dafür ist sie zu offensichtlich und eindimensional. Wir als Agent P3 erleben, wie die Roboter durchdrehen und unser Boss, General Setschenow höchstselbst, gibt uns den Auftrag, dies zu beheben. Derweil ist unser Protagonist dauernd genervt und lässt seine schlechte Laune gerne mal an seinem Helfer, einem Handschuh namens Charles, aus. Dazu ist er auch noch etwas schwer von Begriff und will immer irgendwas kaputtmachen. Die Scharade um ihn herum begreift er leider erst etwas spät, aber er schafft es, mithilfe von Charles, die komplexen Wirrungen der sowjetischen Politik irgendwann doch zu knacken. Ab und an gibt es dann auch wohltuende, leise Untertöne, die das System an sich hinterfragen. Am kontroversesten ist wohl jedoch NORA, unsere leidenschaftliche und notgeile Craftingmaschine. Die Dialoge sind dermaßen eindeutig und übertrieben, dass man sich nur fragend überlegt, was mit den Entwicklern da eigentlich los war. Ein etwas dümmliches Grinsen konnten wir uns aber auch nicht verkneifen. Im weiteren Spielverlauf lässt uns der Bot jedoch auch in Ruhe, sodass wir uns nicht immer wieder ihre Anmachsprüche anhören müssen.
Tanz der Roboter
Atomic Heart schafft es mit seinem faszinierenden futuristisch-sowjetischen Grafikstil, dem fetzigen Sound, den abwechslungsreichen Gegnertypen und den brachialen Kämpfen, eine tolle Atmosphäre aufzubauen und diese auch meist zu halten. Abbrüche tun dieser nur die leider etwas deplatziert wirkende Open-World und die recht lange Liste an Bugs. Die sind in bunter Vielfältigkeit vorhanden und werden uns häufiger dazu nötigen, das Spiel neu zu starten. Mal ist es eine fehlende Stimmenausgabe, dann wieder starke Performance-Einbrüche oder Türen, die sich nicht öffnen lassen. Diese nerven zwar, haben aber zum Glück bis jetzt nicht zu einem kompletten Spielabbruch im Laufe der Geschichte geführt. Die Open-World macht durchaus Sinn, dient sie doch als große Hubworld. Sie ist jedoch abseits der Teststationen und Hauptmissionen eher trist und leer und lädt kaum zum Erkunden ein. Auch die immer wiederkehrenden Gegnerhorden nerven auf Dauer zu sehr.
So viel zu den negativen Aspekten. Absolut positiv hervorzuheben sind die genial inszenierten Schauplätze, auf die wir während der Story treffen. Ob nun ein Museum, in dem der sowjetische Bauwahn glorifiziert wird, oder ein Theater, in dem Roboter die Menschen ersetzt haben. Alle Orte wirken minutiös durchorchestriert und stimmungsvoll in Szene gesetzt. Auch abseits der großen Hauptstory kann Atomic Heart mit Detailverliebtheit und unerwartetem Rätselspaß punkten. Zum einen gibt es kleine Sidequests von NPCs, die wir bei genauem Hinsehen finden können, aber auch noch größere Level, in denen wir geheime Forschungsanlagen (im Spiel als Polygone betitelt) nach seltenem Loot durchforsten dürfen. Diese Anlagen sind unterschiedlichen Themen gewidmet und müssen mithilfe unserer Fähigkeiten erkundet werden. Einen großen Anteil daran haben verschiedenste Arten von Puzzles, wie zum Beispiel das Verschieben von Plattformen mithilfe von Magnetismus oder Räume so anzuordnen, dass sie einen passierbaren Weg bilden.
Saug mich aus!
Zu aller erst muss man die wohl beste Lootmechanik der letzten Jahre lobend erwähnen. Dank unseres händischen Helfers können wir Tische, Schränke oder Kisten sozusagen aussaugen, dafür halten wir das Fadenkreuz in Richtung des zu lootenden Objekts und den Rest erledigt unser Assistent.
Das Schießen macht Spaß, das Handling der Waffen sitzt und wir haben ein spürbares Trefferfeedback. Genauso wie der Nahkampf, der aus normalen Angriffen, aufgeladenen Hieben und Parieren besteht. Die Waffen können nebenbei auch noch in NORA erweitert und gebaut werden. Soweit so normal.
Besonders jedoch sind die Elementarangriffe, bestehend aus Schock, Erfrieren, Polymerschleim, einem Schutzschild und Telekinese, die stark an Bioshock erinnern. Diese können wir nach Herzenslust in einem Skilltree erweitern und austauschen. Es sind immer zwei Slots ausrüstbar, wobei Schock immer aktiv ist und einen dritten Slot belegt. Diese Mechanik fügt sich rund in das Gameplay ein und individualisiert und erweitert unseren Kampfstil drastisch.
Die Bewegungen fühlen sich geschmeidig an und mit einem optionalen Dash in der Luft lassen sich auch schon abgeschriebene Kletterpartien noch retten.
Etwas unnütz ist jedoch die Schleichmechanik, die aufgrund der Vielzahl der Gegner und der fehlenden Motivation eher als nettes Beiwerk angesehen werden darf. Unser Held bleibt auch recht häufig an Objekten hängen oder verkantet sich in Felsspalten, was aufgrund des sonst recht runden Spielflusses schon sehr heraussticht.
Schick, schicker, Atomic Heart
Die Grafik ist einfach… Wow. Allen Skeptikern zum Trotz liefert Mundfish hier eine absolute Grafikbombe ab, die es auch mit den großen AAA-Titeln aufnehmen kann. Knackscharfe Texturen und hübsche Spiegelungen sowie eine atmosphärische Beleuchtung zeichnen den Titel aus. Und nebenbei läuft das Ganze sogar noch angenehm flüssig. Nach den Performancegurken der letzten Zeit eine wohlige Abwechslung. Eine Geforce RTX 3080 kommt dank DLSS Unterstützung auf dem Setting “Atomic” und einer Auflösung in WQHD auf stabile 143 FPS in Innenräumen. In der Außenwelt ist es dann etwas weniger, aber mit 100 FPS darf auch da gerechnet werden. Wenn man etwas Negatives erwähnen müsste, dann wären das die wohl etwas spät aufploppenden Lichtquellen und das fehlende Raytracing. Letzteres ist besonders kurios, da Nvidia dieses Spiel als einen Haupttitel für diese Grafikoption vermarktet hat. Weil die Reflexionen auch mit herkömmlichen Mitteln hübsch umgesetzt wurden, fällt es jedoch kaum auf.
Blast Action Hero
Auch der Soundtrack weiß zu überzeugen, hat doch Mick Gordon, der Komponist und Sounddesigner von Doom, ihn komponiert. Die Musik passt mit seinen manchmal modernen und bassgetriebenen Songs, aber auch vielen klassischen Stücken, gut in das Weltbild der 50er-Jahre. Das Spiel ist mit einer überzeugenden deutschsprachigen Synchronisation erhältlich. Wer will, kann aber auch den russischen Originalton mit Untertiteln dazu schalten. Die restliche Soundkulisse muss sich nicht verstecken und trägt zu einer lebendigen Atmosphäre bei.
Fazit
Selten hatte ich bei einem Spiel so viel Licht und Schatten gleichzeitig. Am Anfang haben mich die unfassbar schicke Grafik und die tolle Performance in ihren Bann gezogen. Auch das World Building und das furiose Intro haben mich sofort abgeholt. Je mehr Zeit ich mit dem Titel verbracht habe, desto bröckeliger wurde jedoch die Fassade. Zu aufgesetzt wirkt die Open-World und die Story ließ mich auch eher mit einem Stirnrunzeln zurück. Aufgrund der abwechslungsreichen Levels und den vielen Rätseln wollte ich dennoch am Ball bleiben und habe es bis jetzt nicht bereut. Wer bei Atomic Heart Abstriche machen kann und sich auf seine Stärken konzentriert, kann viel Spaß mit dem Titel haben.
- Schicke Grafik
- Gute Atmosphäre
- Toller Soundtrack
- Einzigartige Locations
- Herausfordernde Rätseleinlagen
- Neue Lootmechanik
- Elementarangriffe
- Flüssige Performance
- Bugs
- Krude Story
- Leere Open-World
- Hängenbleiben an Objekten
- Schleichen schlecht umgesetzt
- Kein Raytracing
Passionierter PC und Konsolenspieler. Fokus liegt auf Einzelspielererlebnissen